Oktober 2017: "Vögel des Glücks" in und über den Leinepoldern
Der herbstliche Zug der Kraniche ist ein grandioses Naturschauspiel, das viele Beobachter voller Ehrfurcht zum Himmel blicken lässt. An manchen Tagen ziehen die großen "Vögel des Glücks" nicht nur über die Leinepolder hinweg. Mitunter rasten sogar einige von ihnen in dem Schutzgebiet.
Im südlichen Niedersachsen haben es all jene Naturfreunde besonders gut, die gern einer unserer größten heimischen Vogelarten beim Zug in den Süden zuschauen. Aus zumeist nordöstlicher Richtung kommend, durchfliegen jedes Jahr im Herbst viele hunderttausend Kraniche einen Korridor, der sich hoch in der Luft mitten über Deutschland erstreckt. Dabei wählt ein Großteil dieser Vögel eine Route, die die ausdauernden Flieger quer über Niedersachsen gen Hessen und noch weiter in den Südwesten führt. Nicht überall in Deutschland lässt sich der Kranichzug so gut beobachten wie in Niedersachsens Süden.
Hinzu kommt, dass die Leinepolder mit ihren offenen Flächen und den teils recht flachen Zonen der Leine aus Sicht der Kraniche ein ideales Gebiet zum Rasten darstellen. Sie finden Nahrung, sind vor Störungen durch den Menschen weitestgehend sicher und können sich zum Übernachten ins flache Wasser stellen. Diesen Trick wenden die Vögel an, um sich vor Fressfeinden zu schützen, die sich nachts auf der Jagd keine nassen Füße holen wollen.
Langbeiniger Glücksbringer
Ein aufrecht stehender Kranich ist eine imposante Erscheinung. Zwischen 110 und 130 cm können diese Vögel groß werden, was sie nicht nur ihren langen, dünnen Beinen zu verdanken haben. Ihr Hals ist ebenfalls recht lang und dabei recht schmal, was sie trotz ihrer stattlichen Größe sehr grazil wirken lässt.
Fast am gesamten Körper ist das Gefieder erwachsener Vögel grau gefärbt. Kopf, Hals und Nacken sind schwarz mit je einem weißen Bereich auf der linken und rechten Seite. Außerdem haben die Vögel auf dem Kopf einen dunkelroten, unbefiederten Bereich. Die orange-gelbliche Iris lässt den Blick der Kraniche intensiv und durchdringend wirken. Jugendlichen Individuen fehlt die schwarz-weiße Zeichnung an Kopf und Hals, sie haben dort graue Federn. Zudem haben sie keine rote Kopfplatte, sie tragen an jener Stelle graue Federn.
"Gern werden Kraniche als 'Vögel des Glücks' bezeichnet", erläutert Thomas Spieker von den Naturscouts Leinetal e.V., die auch Naturwanderungen rund um die Leinepolder anbieten. "Seinen Ursprung hat der schöne Name wahrscheinlich in Schweden, wo die Vögel bei ihrem Eintreffen im Spätwinter als Frühlingsboten galten und somit Glück verhießen."
Weil Kraniche nicht nur pflanzliche Kost, sondern darüber hinaus kleine Tiere wie Frösche, Fische, Reptilien, Würmer und Insekten zu sich nehmen, hätten sie es schwer, im kalten nord- und mitteleuropäischen Winter ihr Auskommen zu finden. Wie viele andere Vogelarten auch, sind Kraniche wohl vor allem deshalb Zugvögel.
Fast sämtliche Kraniche, die im Frühling und Herbst über Deutschland hinwegziehen, pendeln zwischen ihren nördlichen Brutgebieten und ihren Überwinterungsarealen in Südwesteuropa und Nordafrika hin und her. Nur einige wenige ziehen ihren Nachwuchs in Nordostdeutschland auf. Ein Großteil der Vögel überwintert in Zentralspanien, unter anderem in der Extremadura. Auf ihren breiten Schwingen treten sie somit zweimal jährlich eine weite Reise über unseren Kontinent an, die sie mit Ausdauer und Muskelkraft meistern. Und mit einer besonderen Taktik, die sie unterwegs energiesparend vorankommen lässt.
Ziehen in Formation
Wenn Kraniche ziehen, bilden sie in der Luft für gewöhnlich sehr geordnete Flugformationen, die wie eine 1 oder der Buchstabe V aussehen. Mit ihrer Flügelspannweite von 220 bis 245 cm müsste den Vögeln das Fliegen eigentlich leicht fallen, möchte man meinen. Aber mit ihrem Gewicht von 5 – 7 kg (Männchen) beziehungsweise 5 – 6 kg (Weibchen) sind Kraniche ziemlich schwer und das Fliegen ist entsprechend aufwendig.
"Doch diese Vögel sind Meister der Effizienz, was das Fliegen anbelangt", weiß Thomas Spieker. "Indem sie in den für sie typischen Formationen ziehen, nutzen die Tiere die von den Schwingen der vor ihnen fliegenden Artgenossen erzeugten Luftwirbel, um selbst energiesparender vorankommen zu können." Am meisten muss somit immer derjenige Kranich "arbeiten", der sich an der Spitze der Formation befindet.
Weil das auf die Dauer ausgesprochen ermüdend ist, lässt sich dieser "Anführer" nach einiger Zeit nach hinten fallen und reiht sich am Ende der Formation wieder ein, um danach kräfteschonender fliegen zu können, während ein anderer Vogel die Position an der Spitze einnimmt. Der geordnete Formationsflug bringt den Kranichen somit erhebliche Vorteile.
Lautstarkes Spektakel
Am liebsten ziehen Kraniche bei Sonnenschein und wenig Wind. Das erleichtert ihr Vorankommen zusätzlich. Ist die Witterung im Spätherbst ideal für den Kranichzug, wandern oft tausende bis abertausende dieser Vögel über unseren Himmel. Allein schon wegen ihrer enormen Körpergröße sind sie dabei in aller Regel gut zu sehen. Vor allem aber sind sie in den meisten Fällen nicht zu überhören.
"Kraniche sind während des Zugs sehr ruffreudig", so Spieker. "Ihre Rufe klingen rau und trompetenartig, was an ihrer sehr langen Luftröhre liegt, die entsprechend viel Resonanzraum bietet." Ihr wissenschaftlicher Name Grus grus ist übrigens eine lautmalerische Anspielung auf eben diese Rufe.
Weshalb ziehende Kraniche so häufig rufen, können wir Menschen nur erahnen. Eine Theorie der Wissenschaftler besagt, dass sich die Vögel damit gegenseitig ihre Position mitteilen, denn im Flug können sie sich nicht umblicken, um zu schauen, wo ihre Artgenossen sind. Also wird oft gerufen, um den Nachbarn mitzuteilen, dass man in ihrer unmittelbaren Nähe fliegt.
Rasten zum Krafttanken
So mancher Kranich brütet im hohen Norden Skandinaviens oder im nördlichen Russland. Von dort bis zu den Winterquartieren ist es eine sehr weite Strecke, weshalb es nicht verwundert, dass die Vögel unterwegs an geeigneten Stellen rasten. Die Leinepolder zwischen Einbeck und Northeim sind ein solcher Ort. Dort wurden beispielsweise gegen Ende der herbstlichen Zugsaison des Jahres 2014 rund 180 nahrungssuchende Kraniche gesichtet und auf naturgucker.de gemeldet. Meist landen die großen Vögel in dem Gebiet jedoch vor allem während des Frühlingszugs und stärken sich für die letzten Etappen ihrer Reise zu den Brutplätzen.
"Im Herbst lohnt es sich aber auf jeden Fall, in den Leinepoldern oder im Luftraum darüber bei geeigneter Witterung nach Kranichen Ausschau zu halten", ist Thomas Spieker überzeugt. "Falls man rastende Vögel in dem Schutzgebiet sieht, sollte man – wie eigentlich immer – unbedingt Abstand halten und die Wege nicht verlassen, um die scheuen Tiere nicht aufzuschrecken." Sowohl für Menschen als auch für die sie begleitenden Vierbeiner gilt zu jeder Jahreszeit das Wegegebot. Hunde sind zum Wohle der Wildtiere in dem Naturschutzgebiet auf Wegen an der Leine zu führen. Das ist eine wichtige Maßnahme, um rastende Kraniche und andere Vögel davor zu bewahren, durch eine panischen Flucht unnötig viel Energie zu verschwenden, die sie für den Weiterflug ins Winterquartier dringend benötigen.